Das BAG hat mit Urteil vom 12.02.2025 (Az.: 5 AZR 127/24) entschieden, dass sich Arbeitnehmer während des Laufs der Kündigungsfrist nach arbeitgeberseitiger Freistellung von der Arbeitspflicht nicht sofort um eine andere Anstellung bemühen müssen, um ihren Lohnanspruch zu erhalten. Der Arbeitnehmer ist berechtigt, den Ablauf der Kündigungsfrist abzuwarten. Die Pressemitteilung zu dem Urteil ist abrufbar unter folgendem Link.
Zum Sachverhalt
Seit 2019 war der Arbeitnehmer (Kläger) in dem streitgegenständlichen Arbeitsverhältnis beschäftigt. Die Arbeitgeberin (Beklagte) kündigte das Arbeitsverhältnis ordentlich unter Einhaltung der dreimonatigen Kündigungsfrist zum 30.06.2023. Die Arbeitgeberin stellte den Arbeitnehmer für die dreimonatige Kündigungsfrist bis zum 30.06.2023 unter Anrechnung des bestehenden Resturlaubs unwiderruflich von der Pflicht zur Erbringung der Arbeitsleistung frei.
Nachdem der Arbeitnehmer Kündigungsschutzklage erhob und das Arbeitsgericht der Klage statt gab, stritten die Parteien über ausstehende Lohnansprüche für den Monat Juni. Der Arbeitgeber führte für die Zurückhaltung der Lohnzahlung an, der Arbeitnehmer habe pflichtwidrig Jobangebote in der Zeit nach Ausspruch der Kündigung nicht angenommen. Der Arbeitnehmer erhob daher Klage vor dem Arbeitsgericht und machte den Annahmeverzugslohn geltend.
Der Arbeitnehmer meldete sich nach erfolgter Kündigung, Anfang April 2023, arbeitssuchend und erhielt von der Agentur für Arbeit Anfang Juli Vermittlungsvorschläge. Die Arbeitgeberin übersandte ihm hingegen schon im Mai und Juni 2023 online Stellenangebote, die nach ihrer Einschätzung für den Arbeitnehmer in Betracht gekommen wären. Der Arbeitnehmer bewarb sich erst Ende Juni 2023 auf ausgewählte Stellen.
Die Arbeitgeberin begründete meint, der Arbeitnehmer sei verpflichtet gewesen, sich während der Freistellung zeitnah auf die ihm überlassenen Stellenangebote zu bewerben. Weil er dies unterlassen habe, müsse er sich für Juni 2023 nach § 615 Satz 2 BGB fiktiven anderweitigen Verdienst in Höhe des beim Arbeitgeber bezogenen Gehalts anrechnen lassen.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht gab der Berufung des Arbeitnehmers statt.
Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts
Die Revision der Arbeitgeberin hatte keinen Erfolg.
Die Arbeitgeberin befand sich aufgrund der von ihr einseitig erklärten Freistellung des Arbeitnehmers während der Dauer der Kündigungsfrist im Annahmeverzug. Nach den gesetzlichen Bestimmungen des § 615 Satz 1 BGB in Verbindung mit § 611a Abs. 2 BGB schuldet die Arbeitgeberin dem Arbeitnehmer die vereinbarte Vergütung für die Zeit der Freistellung während der Kündigungsfrist, unabhängig davon, ob dieser tatsächlich gearbeitet hat oder nicht.
Eine Anrechnung eines anderweitig nicht erzielten Verdienstes des Arbeitnehmers ist gemäß § 615 Satz 2 BGB grundsätzlich nicht vorzunehmen. Eine fiktive Anrechnung eines potenziellen, aber tatsächlich nicht erzielten Verdienstes würde für den Arbeitnehmer einen unberechtigten Nachteil bedeuten. Eine solche Anrechnung kann nur dann als gerechtfertigt angesehen werden, wenn der Arbeitnehmer in treuwidriger Weise untätig geblieben ist und es versäumt hat, sich um eine anderweitige Beschäftigung zu bemühen. Dafür bestanden allerdings keine Anknüpfungspunkte.
In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass eine böswillige Unterlassung im Sinne des § 615 Satz 2 BGB nicht bereits pauschal darin zu sehen ist, dass der Arbeitnehmer nicht unmittelbar nach seiner Freistellung eine neue Beschäftigung aufnimmt. Vielmehr bedarf es einer konkreten Prüfung, ob der Arbeitnehmer eine ihm zumutbare Tätigkeit bewusst und ohne sachlichen Grund abgelehnt hat. Die bloße Tatsache, dass er nicht sofort eine neue Erwerbsmöglichkeit wahrnimmt, reicht hierfür nicht aus.
Da § 615 Satz 2 BGB eine Billigkeitsregelung darstellt, ist die Frage, inwieweit der Arbeitnehmer verpflichtet ist, sich um eine anderweitige Erwerbsmöglichkeit zu bemühen, nicht isoliert zu betrachten. Vielmehr muss diese Verpflichtung im Zusammenhang mit den Pflichten des Arbeitgebers gesehen werden. Die Beklagte hätte darlegen müssen, dass es ihr unter Berücksichtigung aller Umstände unzumutbar gewesen wäre, den Arbeitnehmer trotz der Kündigung weiterhin zu beschäftigen. Eine solche Darlegung hat sie jedoch nicht erbracht.
Daher bestand für den Arbeitnehmer keine rechtliche Verpflichtung, sich bereits vor Ablauf der Kündigungsfrist um ein neues Arbeitsverhältnis zu bemühen.
Folgen für die Praxis
Das Urteil macht deutlich, dass Arbeitgeber nicht ohne weiteres eine fiktive Anrechnung von Verdienst vornehmen können, wenn sie einen Arbeitnehmer während der Kündigungsfrist unwiderruflich freistellen. Der Arbeitgeber trägt die Darlegungs- und Beweislast im Hinblick auf die Zumutbarkeit der Beschäftigung zur Abwehr von Annahmeverzugslohnansprüchen bei Freistellungen.
Insbesondere kann der Arbeitgeber durch eigenmächtige Zusendung von Stellenangeboten von anderen Unternehmen an den Arbeitnehmer keine Pflicht des Arbeitnehmers herbeiführen, sich vor Ablauf der Kündigungsfrist auf andere Stellenagebote zu bewerben.
Für Arbeitgeber besteht mithin ein erhebliches Risiko, sich nach unwiderruflicher Freistellung nicht auf ein böswilliges Unterlassen anderweitigen Erwerbs berufen zu können.
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